Werkzeuge für die Notfälle des Lebens
Quelle: DPG alte Website
Autor: Piero Ferrucci
Übersetzung aus dem Englischen: Haike Fiedler – mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Werkzeuge für den Notfall
In diesen schwierigen Zeiten habe ich an die anderen weltweiten Notfälle gedacht, die ich in meinem Leben gesehen habe. Ich erinnere mich an die Kubakrise von 1961, als wir kurz vor einem Atomkrieg standen. Ich war in der High School und fand meine Klassenkameraden eines Morgen in besorgter Unterhaltung. Ich merkte schnell, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, und gedrückte Stimmung überkam mich.
Jeder in meiner Generation erinnert sich an die Nachricht, dass Präsident Kennedy ermordet worden war: Mit ihm starb auch ein Traum (1963). Dann es gab die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei (1968) – ich war am Flughafen von Athen und sah amerikanische B‐52‐Flugzeuge ihre Manöver ausführen. Ich erinnere mich an die Ölkrise im Nahen Osten und an die autofreien Sonntage (1973). Nach der Explosion in Tschernobyl rückte die von den Winden bewegte radioaktive Wolke bedrohlich auf unseren Kontinent zu (1986). Während des Bosnienkrieges sahen wir Apache‐Hubschrauber über unseren Köpfen fliegen, die unsere östlichen Nachbarn bedrohten (1995). Und wer wird jemals den 11. September vergessen?
Dann kam der Krieg im Irak, mit dem Zweck, uns „von Massenvernichtungswaffen zu befreien“ (2004). Das Jahr 2008 war das Jahr der globalen Finanzkrise. In den darauf folgenden heißen Sommern fühlten wir uns wie gegrillt. Und während ich darüber nachdenke, eine positive Ausnahmesituation gab es: den Fall der Berliner Mauer im November 1989 – der Zusammenbruch des Trennenden in allen Herzen. In jedem dieser Notfälle (mit Ausnahme des positiven) war mir bewusst, dass die Not nicht nur meine, sondern die der ganzen Welt war: große Wellen der Angst im kollektiven Unbewussten, Phantasien von Zerstörung, von Kriegen und Epidemien, von Untergang. Es war ein „Urhunger“, der die Menschen dazu antrieb, die Supermärkte zu leeren. Es war der Schrecken vor etwas Unvermeidlichem, immens stärker als jeder von uns.
Im vorliegenden Fall ist es der Schock über eine unpersönliche, unsichtbare Kraft, die unerbittlich voranschreitet, schlimmer als in einem Science‐Fiction‐Film. Der Wunsch, sofort einen Schuldigen zu finden, ist ebenfalls zu erkennen. Dies sind die Emotionen, die in den Tiefen des Unbewussten der Menschheit wüten, die mit all ihrer Kraft auftauchen und in jeden Spalt unseres täglichen Lebens eindringen.
Wenn ich an Notfälle, nah und fern, denke, stelle ich immer wieder fest, dass diese Momente vermögen, einen Blick auf Anteile von uns zu eröffnen, mit denen wir normalerweise nicht in Kontakt sind. Dies sind die uralten Aspekte einer Menschheit, die in ihrer Geschichte jede Art von Hungersnot, Krieg, Pest und Invasion durchgemacht hat. Solche Erfahrungen sind im kollektiven Gedächtnis geblieben. Und dennoch, wie wir sehen, kommt auch das Beste in uns – die Tendenz zu Großzügigkeit und Kreativität – ans Licht.
Die Denkschule, zu der ich gehöre, die Psychosynthese, lehrt uns, den gegenwärtigen Moment als Anlass zum Lernen und zum Finden neuer Ressourcen zu sehen.
Betrachten wir die komplexen Wechselwirkungen des Lebens, haben wir nur die Kraft und das Vermögen, uns selbst, unseren Geist zu verändern: Jedes Ereignis eines jeden Tages wird von unserem Geist definiert und gefärbt. Marc Aurel sagte: „Alles ist so, wie deine Überzeugung es sieht, und diese Überzeugung liegt in dir. Verzichte bewusst darauf und sofort hast du das Kap umschifft und alles ist ruhig; ein ruhiges Meer, ein unberührter Hafen. “
Ich glaube, der beste Ausgangspunkt ist es, offen und leidenschaftslos unsere Sorgen, unsere Angst um uns selbst und unsere Zukunft, um unsere Lieben und um unsere Gesellschaft in uns selbst anzuerkennen.
Und dennoch können wir vorsichtig sein, müssen uns nicht mit den Wellen der Panik und Verzweiflung identifizieren. Ein Notfall verändert unsere Beziehung zu anderen, wie wir uns in unserer Haut fühlen, wie wir die Zukunft sehen. Das alles ist überhaupt nicht angenehm – aber es ist die Realität, und wir sollten uns dessen besser bewusst sein.
Sobald wir dies getan haben, müssen wir uns auch unsere üblichen Strategien ansehen, unseren Ängsten zu begegnen:
Am aufrichtigsten sind vielleicht die „Phobiker“, die ständig damit beschäftigt sind, ihre Hände zu waschen und ihre Umgebung zu desinfizieren.
Dann gibt es die „Rücksichtslosen“ („es ist doch kaum mehr als eine Erkältung“), die sich mehr als andere der Gefahr aussetzen.
Die „Experten“ („der Prozentsatz der Todesfälle beträgt 3,4“) sind über alles gründlich informiert.
Die „Deprimierten“ sehen sich bereits auf der Intensivstation oder stellen sich aufgestapelte Särge vor.
Die „Hoffnungsvollen“ singen und spielen auf dem Balkon („es wird in Ordnung kommen!“).
Die „Verschwörungstheoretiker“ („es war die CIA“) sind sehr sicher in dem, was sie sagen.
Und die „Propheten“ sehen dies als eine Situation, die wunderbare soziale Transformationen hervorbringen wird.
(Ich sehe mich zufällig in mehr als einer dieser Kategorien).
Alle diese Reaktionen sind durchaus gerechtfertigt und haben ihre Funktion; sie sind aber auch Verteidigungsmechanismen, die wir anwenden, um uns vor unerträglichen Gefühlen zu schützen.
Nach einem ehrlichen Blick in unser Inneres können wir uns dem interessanteren Teil zuwenden.
Unser zwingend erforderlicher Rückzug aus dem normalen Leben konfrontiert uns mit unserer Einsamkeit.
Ich denke, die größte Herausforderung in dieser Zeit ist, dass wir uns an uns selbst halten müssen (viele von uns waren sowieso schon allein). In der Einsamkeit können wir verschiedene Aspekte entdecken oder neu entdecken, nicht zuletzt unsere innere Welt. Diese Dimension wird im heutigen Leben oft schlecht behandelt, da sie voller Verpflichtungen und Erkenntnisse über uns selbst ist. Hier ist die Chance, einen Segen zurückzugewinnen, denn unsere innere Welt der Gedanken, Träume und Intuition sind eine Goldmine direkt in unserer Reichweite: Lerne alleine zu sein und du lernst, stärker zu sein.
Wir können auch andere Menschen wiederentdecken. Ich glaube, ich kann mit Sicherheit behaupten, dass in diesen Tagen Freunde, von denen Sie seit einiger Zeit nichts mehr gehört hatten, den Kontakt suchten und wissen wollten, wie es Ihnen geht. Wir sehen eine Sehnsucht nach Verbindung, Wärme und Teilnahme. Einige haben auch das Bedürfnis zu helfen und, wo es möglich ist, zum Wohlbefinden anderer beizutragen. Mitgefühl und Herzlichkeit, das Beste der menschlichen Natur, halten Einzug. Beispielsweise bieten in vielen Wohngebieten junge Menschen an, für ältere Menschen einzukaufen. Dann haben wir die Vorkämpfer: Ärzte und Krankenschwestern an der direkten Front und alle Menschen, deren Arbeit mit Publikumsverkehr verbunden ist. Für solche Menschen können wir nur Bewunderung und Dankbarkeit empfinden.
Vor kurzem wurde ein oft bei der Arbeit auftretendes Phänomen eingehend untersucht, ein Phänomen, das in Stress‐ und Bedrohungssituationen zu beobachten ist: die „tend and befriend‐Reaktion“, das Sich‐kümmern und das Sich‐anfreunden. Hier werden im Notfall zwei Tendenzen aktiviert.
Eine davon ist die Aggressivität: Der Testosteronspiegel steigt und die Menschen gehen auf Gegenwehr oder flüchten. Das andere ist das „Sich‐kümmern und das Sich‐anfreunden “, wo Solidarität und Geselligkeit aktiviert werden und die Level der Neurotransmitter Oxytocin und Serotonin steigen. Es ist eine sehr alte Reaktion, die es uns ermöglicht hat, einander zu helfen, viele Katastrophen zu überleben.
Kehren wir zurück zu unserer inneren Welt. Die Psychosynthese bietet viele Meditationen und Visualisierungen.
Jetzt ist eine gute Chance zum Experimentieren.
Hier ist eine einfache Übung, die allen nützlich sein kann:
Nimm ein paar tiefe Atemzüge
und bedanke dich bei deiner Lunge, die weiter ihre ruhige Arbeit macht.
Denk an den Wert, der für dich am bedeutsamsten ist:
zum Beispiel Gerechtigkeit, die wir allen wünschen, den Schwachen oder Mächtigen, den Reichen
oder Armen, und die die Welt verändern würde;
Schönheit, die unser Leben neu belebt;
Freundschaft, die für Vertrauen und Loyalität steht;
Gesundheit nicht nur des Körpers, sondern auch des Geistes;
oder Liebe, ohne die wir nicht leben können.
Wenn du dich für einen Wert entschieden hast, sind die anderen nicht ausgeschlossen.
Es ist Raum für alle, wir nehmen einfach einen nach dem anderen.
Veranschauliche dir nun diesen Wert in der Mitte deines Seins.
Denk ein paar Momente darüber nach:
Wie würde es deine Existenz verändern, wenn dieser Wert sie durchdringen würde?
Aus welchen Gründen ist dir dieser Wert so wichtig? Was verspricht er?
Lass nun in deinem Bewusstsein ein Bild entstehen, das diesen Wert für dich symbolisiert.
Dies kann aus dem menschlichen Umfeld oder der Natur kommen.
Jedes Bild ist richtig, solange es überzeugt. Wenn dies nicht der Fall ist, lass ein anderes Symbol auftauchen.
Das Unbewusste spricht in Symbolen, dies ist seine Sprache.
Nimm das Symbol mit voller Bewusstheit an.
Bestätige schließlich mit einem inneren Willensakt den Wert, den du gewählt hast – seine Bedeutung
und Präsenz in deinem Leben –, damit er dein Verhalten und deine Beziehungen anregen
kann.
Werte sind definitionsgemäß erneuernd. Wir brauchen sie, aber wir vergessen sie leicht. Studien haben gezeigt, dass es ausreicht, an den Wert zu denken, dem wir einen hohen Stellenwert einräumen, und ihn zu bekräftigen, um eine positive Reaktion in unserem gesamten Organismus hervorzurufen.
In unserer Isolation können wir einen großen Reichtum anzapfen, der geduldig auf uns gewartet zu haben scheint. Jetzt können wir in Ruhe lesen. Unsere Art zu lesen war in den letzten Jahren bruchstückhaft, zersplittert, und wir haben etwas von der Magie des gründlichen Lesens verloren.
Stattdessen haben wir uns mehr und mehr an die nervösen und unberechenbaren Rhythmen von Links und Hypertexten gewöhnt.
Das Gleiche gilt für Musik, auch hier haben wir Meisterwerke, die wir mit einem Klick erreichen können. Die großen Männer und Frauen, die in anderen Epochen gelebt haben, sind in gewisser Weise immer noch lebendig unter uns und führen uns.
Ich möchte hinzufügen, dass wir hier ambitioniert und selektiv vorgehen und nur die unsterblichen Werke wählen sollten. Jene Werke, die uns auf eine Ebene heben, wo das tägliche Leben eine ferne Erinnerung ist und wir uns in einer größeren, leuchtenderen Sphäre wiederfinden. Genug mit dem unaufhörlichen Geschwätz von allem, was uns vom Wesentlichen ablenkt! Lesen Sie zum Beispiel die Odyssee oder Marc Aurels Meditationen oder Platons Republik oder die Bhagavad Gita oder das Tao Te Ching. Hören Sie Bach und Mozart. Oder Beethoven: „Musik ist der Traumhafte Zugang zur höheren Welt des Wissens.”
Dies sind lediglich Möglichkeiten: jeder nach seinem Geschmack.
Wenn Sie Ravel bevorzugen, hören und sehen Sie, wie Benedetti Michelangeli das Adagio des Konzerts in G‐Dur spielt
(nur ein Vorschlag): https://www.youtube.com/watch?v=penNqSSZTIs
Sie können Museen von zu Hause aus besuchen – ohne die Menschenmassen und ihre Handys.
Möchten Sie die Eremitage sehen? https://www.youtube.com/watch?v=49YeFsx1rIw.
Wie wäre es mit der Sixtinischen Kapelle? Es ist einfach:
http://www.museivaticani.va/content/museivaticani/it/collezioni/musei/cappella‐sistina/tour‐virtuale.
Die Psychosynthese sagt, dass es einen Teil in uns gibt, den Kern, den wir das Selbst nennen, der von unseren Gedanken und Gefühlen unberührt bleibt. Empfindungen, Gemütsverfassungen, Bilder und Verlangen wechseln sich ab und kämpfen um die Oberhand in einem fortwährenden Trugbild.
Aber unser Zentrum, unser Selbst, bleibt immer gleich. Es ist das Selbst, zu dem wir zurückkehren müssen, weil es der Höhepunkt/das Optimum unseres Seins ist. Dort sind wir sicher und beschützt, unser ganzes Menschenleben hindurch. Auch wenn ich mich damit Protest oder Ironie aussetzen sollte, möchte ich sagen, dass das Virus uns dort nicht erreichen kann.
Auf diese Weise werden wir eingeladen, die Fähigkeit in uns zu finden und auszubilden, uns vom Fluss unserer Erfahrungen zu distanzieren. Wir identifizieren uns mit Angst, Terror und den dunkelsten Fantasien und fühlen uns von ihnen überwältigt.
Lösen wir uns von ihnen, dann sind wir frei. (Mehr Informationen zu diesem Thema findet man in den vielfältigen Büchern über Psychosynthese.) Auf einem grundlegenderen Niveau wurde diese Fähigkeit in verschiedenen Studien nachgewiesen. Eine beispielsweise unterteilt Menschen in „Velcro‐„
und „Teflon“‐Typen. Die „Velcros“ heften sich an ihre Gefühle und Ideen und identifizieren sich über sie und können sich nicht davon befreien. Die Teflons sind in der Lage loszulassen und erlauben allem, zu fließen.
Raten Sie mal, wer besser dran ist!